Menschenjagd

Aus der NZZ am Sonntag vom 16.September 2012 (PDF)

Im Strudel eines «Literaturskandals»

Frühmorgens klingeln Polizisten an der Haustür eines Zürcher Gymnasiallehrers. Sie durchsuchen seine Wohnung und führen ihn ab – er soll im Unterricht Pornografie verbreitet haben mit der Lektüre eines Theaterstücks aus dem 19. Jahrhundert. Es beginnt eine Irrfahrt durch das Justizsystem, an deren Ende eine zerstörte Existenz zurückbleibt. Erstmals äussert sich der Lehrer D. S. zu seiner kafkaesken Erfahrung

Es war 1997 auf der Polizeistation einer Provinzstadt in lran. An der Wand, mir gegenüber, Ayatollah Khomeiny. Ich starrte während des Verhörs an seinen Bart, der mehr und mehr zum Symbol des ganzen Sittenpolizeistaates wurde. Eine Sittenpolizei, die in jeder Geste Sex vermutet, aus jedem Geräusch Pornografie erlauscht. Das ist eben Iran: Ich ging mit zwei Studentinnen in einem Park spazieren und wurde deswegen verhaftet. In der Schweiz undenkbar. So dachte ich damals. Bis 2009.

Fünf fraglos anerkannte, teilweise zum Kanon der Schulliteratur zählende Texte mit einer Klasse lesen und dann wegen Weitergabe von Pornografie an Minderjährige verhaftet werden: Diese Geschichte spielt nicht in Iran. Dort darf eine Lehrperson gefahrlos die erotisch aufgeladenen Erzählungen aus «Tausend und einer Nacht» behandeln, weil selbst die Sittenwächter wissen: Literatur ist nicht Pornografie. Diese Geschichte spielt in Zürich, wo die Staatsanwaltschaft das nicht weiss.

7. Juli 2009. Drei Minuten vor sechs aus dem Schlaf geklingelt. Bewaffnete Polizisten, eine Staatsanwältin und eine Kinderschutzbeamtin vor der Tür. Ich darf kurz aufs Klo (die Tür muss offenbleiben – könnte ich durch die Kanalisation entgleiten?), dann wird die Wohnung durchsucht. Ich, im Pyjama im Bett sitzend, darf mich nicht bewegen. Im Wohnzimmer die Staatsanwältin und die Kinderschutzbeamtin am Boden kniend und lachend über privaten Fotografien. Vor den Augen meiner Frau. Nach eineinhalb Stunden geht’s weiter zur Schule. Meine Frau, in Panik, fragt: «Kann ich mitkommen?» Ein Polizist: «Es hat keinen Platz im Auto.» Darauf Gelächter der ganzen Truppe. Ich werde, eskortiert von fünf Polizisten, ins Schulgebäude geführt. Wer das sieht, dem ist klar: Da wird ein Schwerverbrecher gestellt. Auch mein Arbeitsplatz wird durchsucht, die PC-Daten abgezogen.

Der Grund für diesen Überfall: Ich hatte Bücher mit der Klasse 3i gelesen. «Frühlings Erwachen» von Frank Wedekind, «Dunkler Frühling» von Unica Zürn, «Menschenfresser» von Marlen

Haushofer, «Die Selbstmord-Schwestern» von Jeffrey Eugenides und «Warum das Kind in der Polenta kocht» der schweizerisch-rumänischen Schriftstellerin Aglaja Veteranyi, die sich 2002 im Zürichsee das Leben nahm. Später wird sich eine Lehrerstimme melden, die sagt: «Veteranyi mit einer Schulklasse lesen? Also ich würde das höchstens mit einer Maturklasse.» Bei mir standen am Schluss Kafka und Ingeborg Bachmann. Veteranyis Roman ist ein anspruchsvoller Text. Einer jedoch, den man im 3. Gymnasium bewältigen muss, will man zu Kafkas Roman «Der Process» vordringen. Dieser Process nun aber war zu mir vorgedrungen, bevor ich ihn mit jener 3. Klasse, aus der die Anzeige stammte, behandeln konnte.

Im Gegensatz zum iranischen Staatsbeamten spielte die Staatsanwältin P. B. bei den zwei einzigen Einvernahmen zu Beginn des dreijährigen Verfahrens ihre Macht aus. Jede ihrer Gesten, die verächtliche Begrüssung, der herablassende Ton bei ihren Fragen und das fortlaufende Kauen eines Kaugummis zeigten: Ein Hund bin ich. Das Urteil stand von Anfang an. Sie brauchte meine Antworten nicht. Und doch: Das war nicht eine Untersuchung Marke P. B., nein, da kam ein System zum Ausdruck, eine Ideologie. So greift die Zürcher Staatsanwaltschaft Menschen auf und zersetzt sie. Wer so auftritt, braucht sich nicht zu rechtfertigen. Der verliert niemals seinen Job, und der hat sein Gehalt auf sicher.

In Kafkas «Der Process» wird die Hauptfigur Josef K. eines Morgens aus heiterem Himmel verhaftet. Und je weiter er in der Folgeversucht, sich von diesem «Process» zu befreien, um so mehr wird sein Leben zum Process. Ich sehe mich im gleichen Muster gefangen. Auch die Erklärungen von Josef K.s Anwalt Huld zum Verfahren gleichen bis aufs Detail den Erklärungen meines Anwalts zur Zürcher Justiz. Bloss dass dieser Huld im Roman die Erklärungen aus dem Bett seines ewig düsteren Schlafzimmers heraus gibt, mein Anwalt hingegen in einer hellen Anwaltskanzlei. Ob das Verfahren so oder so verlaufe, beides möglich, alles möglich. Untersuchungshandlungen könne es geben, zwingend sei das nicht. Im Wesentlichen gehe es darum, herauszufinden, wie diese Staatsanwältin ticke. Darauf müsse man sich dann einstellen. Das ganze juristische Geflecht, das sich in Kafkas Roman über Josef K.s Leben legt: keine kafkaeske Übertreibung.

Wie alles begann: Die muslimische Mutter einer Schülerin stört sich an den Texten. Darüber kann man reden. Aber diese Mutter versucht nicht zu reden. Auch ihre Tochter nicht. Sie gehen zur Kinderschutzpolizei. Ein Verhaftungspotenzial wird ersonnen, die Mutter macht Anzeige, und der Fall landet bei der Staatsanwältin P. B. Diese konstruiert aus fünf literarischen Texten, die sie nicht kennt und auch während des Verfahrens nicht liest, und aus vier angeblichen Vorkommnissen im Unterricht ein Offizialdelikt. Drei Oberrichter geben den Segen zum Überfall, der bei Beamten nötig ist.

Was stand im Hausdurchsuchungsbefehl? Es stand unter anderem: «Die Frage, ob dem Werk von Unica Zürn ein schutzwürdiger kultureller oder wissenschaftlicher Wert zuzubilligen ist, lässt sich nicht ohne weiteres beurteilen.» Das (unter-)schreiben Leute, welche den Text erstens nicht kennen und zweitens genau diese Frage auch später niemals germanistisch abklären lassen. Weiter zu Jeffrey Eugenides‘ «Die Selbstmord-Schwestern»: «Lediglich am Rand ist dennoch zu bemerken, dass der Text für den Deutschunterricht von vorne herein etwas speziell erscheint, da er ursprünglich in Englisch verfasst wurde.»

Die Klasse las dieses Werk im Rahmen des IB-Programms (International Baccalaureate). Dieses IB-Programm sieht zwingend übersetzte Texte vor. Solche Zusammenhänge interessieren die Staatsanwältin nicht. Ihre Logik: Der liest übersetzte Werke, nur um das Thema Sexualität (das bei diesem Werk eines ist unter vielen) um jeden Preis in den Unterricht einzuschleusen. Übersetzung als Indiz für Porno-Weitergabe. Die drei Oberrichter unterschreiben. Weiter stand im Papier, das die Hausdurchsuchung rechtfertigt: «Im Rahmen einer Abschlussstunde vor Weihnachten habe er das Zimmer verdunkeln und indische Musik abspielen lassen.» Und auch die Verdunkelung und die indische Musik verfangen bei den Oberrichtern. Der staatliche Überfall hat seine Gründe. Basierend auf Literatur und erfundenen Erzählungen einer Mutter. Jeder hat das Recht auf Anzeige. Das sei eine Errungenschaft der Demokratie, sagt man auf der Bildungsdirektion.

Ich sah mich an jenem 7. Juli des Jahres 2009 aus heiterem Himmel verhaftet. Milchige Sonne, die Luft feucht. So war meteorologisch gesehen jener Tag, der sich als Trauma in meine Biografie eingeschrieben hat. Ich unterrichtete stets so, dass auch Menschen, die bestimmten Themen nicht unbedingt offen gegenüberstehen, sich gut aufgehoben fühlten. Eltern aus dem Umfeld von christlichen Freigruppen etwa lobten meinen Unterricht. Wohl kaum dafür, dass er auf Sexualität fokussiert gewesen wäre. Aber es versteht sich: Wenn indische Musik zum Indiz für Pornografie wird, ist alles möglich.

Etappen aus dem sich ins Unendliche ziehenden Verfahren: Die Mutter, als Ausgangspunkt, glaubt, einen Pädophilen enttarnt zu haben. Vorteil: Da braucht es nicht wirklich Taten (dass es solche nicht gegeben hat, räumt selbst die Staatsanwältin gegenüber dem «Magazin» ein), da genügt das So-Sein. Gibt es da nicht Parallelen in der Geschichte? Weiter im Verfahren (Oktober 2009): In der ersten Einvernahme behauptet die Staatsanwältin, die Mutter sei bei ihrem Kontaktversuch von der Schulleitung abgewimmelt worden. Der Rektor wird bestätigen: Das trifft nicht zu. Weiter im Verfahren (zirka November 2010): Nachdem sich über Monate absolut nichts getan hat, verlangt mein Anwalt ein Gutachten zu den Texten. Bald darauf erkundigt sich die Bildungsdirektion bezüglich der Dauer des Verfahrens.

Justiz als Spielerei

Die Staatsanwältin begründet die unendliche Verzögerung damit, dass ein Gutachten ausstehe. Die Wahrheit: Sie hat nie ein solches Gutachten in Auftrag gegeben. Weiter im Verfahren (Frühjahr 2011): Als ich den Strafbefehl nicht akzeptiere, leitet die Staatsanwältin diesen als Anklage ans Bezirksgericht weiter und erhöht dabei das geforderte Strafmass von 150 auf 270 Tagessätze. Das Gericht weist den Strafantrag wegen Verfahrensmängeln zurück. Nun muss die Staatsanwältin mit mir doch eine Abschlusseinvernahme durchführen. Weiter im Verfahren (Dezember 2011): Nach dem Urteil des Bezirksgerichts (Freispruch im Hauptanklagepunkt, 15 Tagessätze wegen Fotos) zieht die Staatsanwaltschaft die Angelegenheit pauschal weiter. Das geforderte Strafmass liegt neu bei 300 Tagessätzen, also bei fast 50 000 Franken (höher als bei fahrlässiger Tötung). Justiz als Spielerei. Die Staatsanwaltschaft behauptet, der Bezirksrichter sei voreingenommen gewesen. Er habe bereits am Ende der Verhandlung sein Unverständnis bezüglich des Hauptanklagepunkts geäussert.

Weiter im Verfahren (ab Beginn 2012): Weil ich zu Beginn des Jahres 2012 den Antrag stelle, mich von der Verhandlung dispensieren zu lassen, muss sich Staatsanwalt D. K., der die Staatsanwältin P. B. ersetzt, mit dem Fall beschäftigen. Er spricht sich gegen meine Dispensation aus, begründet damit, er habe Fragen zu stellen. In einem Interview behauptet er ausserdem, ich hätte die Texte nur in Auszügen lesen lassen. Darin liege die Pornografie. Damit übertrifft er an Erfindungen sogar die anzeigende Mutter. Dass Staatsanwalt D. K. sich nicht, wie er der Presse gegenüber behauptet, erst am 5. Juli 2012, als er den Rückzug verkündet, mit dem Fall eingehend beschäftigt, ist offensichtlich.

Ebenso Anfang 2012 wird die Oberstaatsanwaltschaft aktiv. Sie spricht bei der Schulleitung des Literargymnasiums vor und fordert von dieser, die mich konsequent stützt, Zurückhaltung. Im Juni 2012 wiederhole ich mein Dispensationsgesuch mit ärztlichem Zeugnis. Über eineinhalb Jahre keine Fragen, insgesamt keinerlei Untersuchungshandlungen, der Verhandlung vor Bezirksgericht bleibt die Staatsanwältin fern. Mit anderen Worten: Der plötzliche Fragebedarf reiner Hohn. Das Beharren auf meiner Anwesenheit ist Teil der Menschenhatz, wobei D. K. seine wahren Beweggründe hinter dem Amt verstecken kann. Diese Behörde, so schreibe ich, hat jedes Recht auf Fragen verwirkt. Sie darf nicht weiter mein Leben bestimmen. Ich bezeichne sie dem Gericht gegenüber als Unrechts-Organ. Weiter führe ich die medizinischen Gründe an und halte fest, dass die markante Verschlechterung meines Gesundheitszustands eine Folge des ganzen Verfahrens ist.

Das Gericht hiess mein Gesuch, nachdem ich dieses Schreiben nachgereicht hatte, am 2. Juli 2012, vier Tage vor der Verhandlung, gut. Und dies gegen den geharnischten Einwand von D. K. Dieser hatte sogar von einem Rechtshilfebegehren an Deutschland gesprochen, um meine Prozessfähigkeit abzuklären. Er zweifelte die Aussagen des ärztlichen Zeugnisses an (ein blanker Zynismus angesichts einer drohenden Erblindung). Und dann eben plötzlich der Rückzug, keine 24 Stunden vor Verhandlungsbeginn. Weshalb dieser Rückzug, nachdem noch Stunden zuvor meine Anwesenheit ein Rechtshilfebegehren wert war?

Vielleicht hat die bewilligte Dispensation und damit verbunden die Tatsache, dass ich kein weiteres Mal medial vorführbar sein würde, den Rückzug bewirkt. Vielleicht auch die in der Bewilligung deutlich werdende Haltung des Gerichts. Vielleicht kam im letzten Augenblick eine Direktive «von oben». Vielleicht indes zielte der Weiterzug allein auf weitere acht Monate Zermürbung, und der Rückzug kurz vor der Verhandlung war eingeplant. Sadismus auf Steuerkosten. Alles ist möglich.

Fazit: Noch lassen sich literarische Werke vor Gericht nicht als Pornografie verkaufen. Aufatmen? Wenn es so weitergeht, wie sieht’s in zehn Jahren aus? Wird einer wegen «Faust» verhaftet? Oder gar wegen der Bibel? Weder für das Verbreiten von Lügen noch für die Mängel und die Schludrigkeit im Verfahren muss die Staatsanwaltschaft geradestehen. Und auch die Oberrichter nicht, welche den Überfall abgesegnet haben. So bleibt ein in die Länge verschleppter Freispruch im Hauptanklagepunkt. In Kafkas Roman gibt es den Freispruch nur als Idee. Tatsächlich bleiben zwei Optionen: der scheinbare Freispruch, der wieder zur Verhaftung führt, und die unendliche Verschleppung. Auch das keine literarische Übertreibung.

Zersetzt und arbeitslos bin ich allemal. Der Pornolehrer bleibt haften. Unzählige Schulstunden liegen in Trümmern, meine Heimat verätzt. Zusammen mit Teilen der Tagespresse gelang der Zürcher Staatsanwaltschaft im Grunde der Totschlag. Die Schweizerische Depeschenagentur schreibt in ihrer Meldung zum Rückzug der Revision kein einziges kritisches Wort zum ganzen Verfahren, dafür placiert sie, die Sache zusammenfassend, die Lüge, es hätten sich Darstellungen von sexuellen Handlungen mit Kindern auf Fotos gefunden. Diese Meldung schalten verschiedene Zeitungen online (so die «Zürichsee-Zeitung»,der «Tages-Anzeiger»). Das Bezirksgerichtsurteil erwähnt ausdrücklich das Gegenteil: keine sexuellen Handlungen. Menschenhatz der Staatsanwaltschaft mit Rufmord in Teilen der Presse kombiniert -und das Werk ist getan.

Die Hausdurchsuchung hatte die Funktion, mögliche Gründe nachzuliefern, die zum Zeitpunkt der Verhaftung nicht vorlagen. Das allein zeigt eine signifikante Verschiebung der Auffassung von Rechtsstaat. Die Gründe, die in meinem Fall juristisch hängenblieben: 36 Fotos von Menschen unter 16. Sie waren Teil einer Sammlung mit Aktfotografien aus allen Lebensaltern. Vom19. Jahrhundert bis Mapplethorpe.

Laut dem für das Urteil massgeblichen Bundesgerichtsentscheid ist pornografisch, was arrangiert daherkommt. Für den aber, der in «Frühlings Erwachen» Pornografie erkennt, muss ohnehin jede Aktfotografie Pornografie sein. Er bringt die Pornografie nämlich mit. In seinem Kopf.

Totalitärer Säuberungswahn

Ich hatte keine Kraft, gegen das Urteil anzukämpfen, wollte die Sache nicht weiter verschleppen, was aber ohne mein Zutun doch geschah. Überdies wurde eine mögliche Stempelung (Berufsverbot wegen Aktfotos) erst nach dem Urteil zum Thema.

Im Bereich Sexualität und Minderjährige angeschossen zu werden, macht einsam. Bald entpuppt sich als Feigling, was vor kurzem noch als Freund aufgetreten ist. Auch der tief verankerte Glaube an die Korrektheit von Schweizer Behörden spielte beim Verstummen vieler wohl eine Rolle. Oder es passte einfach nicht ins Weltbild, dass es parteipolitisch gesehen in erster Linie eine sozialdemokratische Hatz auf der einen und der SVP-Richter T.M. auf der anderen Seite war, der diese Hatz im Rahmen seiner Befugnisse deutlich kritisierte. Blocher war doch immer der Böse. Einige bezeichneten die Staatsanwältin als dumme Kuh und verschafften sich so Klarheit. Nein, die Staatsanwältin mag literarisch ungebildet sein. Doch sie verkörpert präzise das, was gilt. Wer vermutete Pädophile jagt, braucht sich in der Regel für nichts zu rechtfertigen.

Zugegeben, lange war es schwierig, sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Spätestens nach jenem Urteil im Oktober 2011 jedoch war klar: Ich wurde allein wegen fünf literarischer Texte und unhaltbarer Vorwürfe den Unterricht betreffend verhaftet. Es war da keine weitere Geschichte im Hintergrund, kein Übergriff auf eine Schülerin, wie man das zumindest in einigen Lehrergremien angenommen hatte (es wird doch wohl niemand wegen Büchern verhaftet – doch es wird!). Und die Fotos, abgesehen davon, dass sie selbst im Lichte jenes Bundesgerichtsentscheids alles andere als eindeutig pornografisch waren, spielten bei dieser Verhaftung keinerlei Rolle.

Unabhängig von meiner Person hätte Anlass zu politischer Empörung bestanden. Für all jene, die weiterhin an eine freiheitliche Gesellschaft glauben möchten. Besonders aber für Deutschlehrer, deren humanistischer Unterrichtsstoff kurzerhand zum Überfallsgrund mutierte. Es gab Briefe, ja, aber das reicht kaum, den totalitären Säuberungswahn, der als Kinderschutz daher kommt, zu bremsen. Und die Schriftsteller? Sie, die bei jedem SVP-Plakat aufschreien, blieben stumm. Dabei haben manche Aglaja Veteranyi persönlich gekannt. Sie wären es ihr und ihrem Roman allein schuldig gewesen, laut zu werden. Immerhin, einige Zürcher Rechtsanwälte sprachen Klartext: «Die Justiz operiert im Windschatten einer gesellschaftlichen Hatz. Kein Einzelfall.» So ihre Kommentare. Aber es waren Privatmitteilungen. Mit der Justiz will es keiner verderben. Sie hat längst mythologische Dimensionen angenommen. Religionsersatz. Eine Errungenschaft der Demokratie.

Totschlagwörter

Dass ich diese Zeilen schreiben kann, hat mit der Empörung Einzelner zu tun. Dabei steht der Rektor des Literargymnasiums in Zürich ganz vorne. Seine klare Stellungnahme war der Staatsanwaltschaft stets ein Dorn im Auge. Hätte die Schule einen anderen Rektor gehabt, zum Beispiel jenen, der gegenüber der Presse verlauten liess, er lese Veteranyi, wenn überhaupt, erst mit einer Maturklasse, dann gäbe es diese Zeilen nicht. Das Vorhaben von offenbar nicht wenigen Schülern, am Tag der Verhandlung vor dem Obergericht zu demonstrieren, und die Unterstützung aus dem fernen Australien waren ebenso wichtige Zeichen. Die Petition gegen die Setzung auf eine schwarze Liste, die der Philosoph und Historiker C. D. aus Armidale initiierte, wollte man auf der Bildungsdirektion übrigens nicht persönlich entgegennehmen. Balsam auch einige Leserbriefe, deren Verfasser sich vom Totschlagwort Kinderpornografie nicht blenden liessen. Dass Lesermeinungen von Medien zensuriert oder zurechtgebogen wurden, das wiederum weiss ich von Freunden, die geblieben sind.

Was mich zum Ende erstaunt: Wo sind eigentlich die, die stets die Verschleuderung von Steuergeldern kritisieren? Solche Verfahren und solche Rückzüge kosten Geld. Nicht wenig. Und ich bin kein Einzelfall, wie Rechtsanwälte sagen. Wenn es um paranoiden Schutzwahn geht, dann scheint Geld keine Rolle zu spielen. Der Staatsapparat darf sich aufblähen, brutal, masslos und stümperhaft, und niemand schreit auf.

Bleibt Khomeinys Bart an der Wand. Irgendwie ist es für den Verhafteten erträglicher, wenn da einer ist, der diese Hatz verordnet. Das grosse Erschrecken aber ergibt sich mit der Einsicht: Menschen funktionieren so ohne Bartträger. Sie tragen den Khomeiny in sich. Auch das eine Errungenschaft der Demokratie? Demokratie als eine Gesellschaft von unsichtbaren Bärten?

Dieser Text ist eine erste Etappe. Geplant und teilweise begonnen sind eine literarische Verarbeitung und eine Dokumentation in Buchform.

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