Sie war schon lange nicht mehr in Berlin gewesen, konnte sich aber noch dunkel an eine Gaststätte erinnern, in der sie früher gerne war. Es sah ganz so aus, als hätten wir sie gerade wiederentdeckt. Na gut, sie hatte sich äußerlich verändert, auch der Name war neu, aber das musste sie sein. Wir wollten sowieso eine Pause einlegen, denn meine Freundin konnte nicht mehr lange in den neuen Schuhen laufen, wir hatten Hunger und ich hatte versprochen, sie zum Essen einzuladen.
Wir konnten schon durch die Glastür erkennen, dass noch viele Plätze frei waren. Doch als wir reingehen wollten, wurden wir aufgehalten. Ein freundlicher Mann sprach uns an und sagte: „Bitte, warten Sie, Sie werden platziert!“
Das überraschte mich einerseits, andererseits kam es mir bekannt vor. In der DDR wurde man auch platziert. Man konnte sich nicht einfach hinsetzen, wo man wollte, man wurde platziert. Offenbar war das wieder eingeführt worden. Ich hatte es nie gemocht, derartig eingeschränkt zu werden, ich sah darin eine überflüssige Alltagsschikane, mit der Menschen in ihrem unbefangenen Schwung ausgebremst und klein gemacht wurden.
Dennoch hatte ich ein gewisses Verständnis für solche im Grunde gut gemeinten Regelungen. Ich fand auch, dass man die DDR, für die ich sowieso Verständnis hatte, nicht am Beispiel solcher Pingeligkeiten kritisieren sollte, was früher jedoch viele Westler getan hatten.
Meinen Verwandten gegenüber, die in der DDR leben mussten, hatte ich immer ein schlechtes Gewissen gehabt – ein schlechtes Gewissen der besonderen Art. Sie konnten schließlich nichts dafür, dass sie nach dem Krieg in dem Teil Deutschlands leben mussten, in dem den Menschen übel mitgespielt wurde. Dieses latent vorhandene Gefühl, irgendwie in ihrer Schuld zu stehen, wurde jedes Mal verstärkt, wenn ich bei meinen Besuchen kostbare Geschenke – die nicht für mich, sondern nur für sie kostbar waren – mitgebracht hatte und damit stets aufs Neue unterstrich, dass ich zu denen gehörte, denen es besser ging, sie dagegen zu denen, denen es schlechter ging, obwohl keiner von uns etwas dafür konnte und wir eigentlich zusammengehörten und alle gleichermaßen aus einer großen Familie kamen, die allerdings durch die Grenze zerrissen war.
Außerdem war mir durchaus bewusst, dass mit der so genannten freien Platzwahl leicht Missbrauch getrieben werden kann – wie das grundsätzlich immer möglich ist, wenn es unbegrenzte Freiheiten gibt. Wer Freiheit fordert, meint oft nur seinen eigenen Vorteil. Das war mir längst klar. Gerade die berühmt-berüchtigten Liberalen waren immer schon diejenigen gewesen, die privilegiert waren und auf eine lange Geschichte zurückblicken konnten, bei denen sie von der Gemeinschaft profitiert hatten. Da schadete es nicht, wenn sie ausnahmsweise ein bisschen kürzer treten mussten.
Der freundliche Mann, der für das Platzieren zuständig war, kam zurück und erklärte, dass alle Plätze besetzt wären.
Hm? Das sah mir gar nicht danach aus. „Aber …“ Ich zeigte auf die vielen leeren Plätze und fügte meiner Geste ein stummes Fragezeichen hinzu.
„Die sind reserviert“, antwortete der Beauftragte.
„Ab wann denn?“ Ich fragte das in der vagen Hoffnung, dass es für uns vielleicht für einen schnellen Happen reichen könnte.
„Die Gäste werden jederzeit erwartet“, sagte der Beauftragte. Es klang nicht unfreundlich, doch der Tonfall machte deutlich, dass er nicht derjenige war, der Fragen zu beantworten hatte. Er teilte nur mit, wie es war. Das musste genügen. Damit schien unser kleiner Dialog am Ende zu sein. Doch ich wollte nicht verfrüht aufgeben: Wenn die Gäste gleich kommen, dache ich, wären die Plätze womöglich bald wieder frei, wir können ja in der Zwischenzeit ein wenig bummeln, falls sie noch in den Schuhen laufen konnte. „Bis wann sind sie denn reserviert?“
Er sah mich traurig an. „Sie sind immer reserviert. Für Parteimitglieder.“Die Partei – das muss ich sagen – ist mir sympathisch. Sie hat bekanntlich schwere Zeiten durchlebt und hat sich stets für das Wohl der Menschen eingesetzt, auch wenn sie dafür beschimpft und geächtet wurde. Sie hat eine sehr eindrucksvolle Geschichte. Sie war immer auf der Seite der kleinen Leute mit der guten Gesinnung. Ich kenne einige Parteimitglieder persönlich. Ich mag sie. Von diesen Bekannten kann man zwar nicht sagen, dass sie es schwerer hätten als andere – schließlich muss jeder sein Kreuz tragen –, ich habe sie jedoch immer für ihr mutiges und selbstloses Eintreten für die Partei bewundert. Man muss auch mal über den Horizont der eigenen Betroffenheit hinausdenken.
Zufällig erkannte ich in dem Moment – wie das so ist, falls man daran glaubt, dass es Zufälle gibt … also, just in dem Moment, als ich an die Freunde dachte, die ich in der Partei hatte, erkannte ich einen von ihnen im Speisesaal: Hubert, einen alten Vertrauten mit seiner attraktiven Partnerin. Ich winkte ihm zu. Er erkannte mich sofort und winkte zurück. Das konnte eigentlich kein Zufall sein. Er war es wirklich: mein alter Kumpel Hubert, mit dem ich schon auf so mancher Demo für ein besseres Leben und gegen Verteilungskämpfe um Rohstoffe marschiert war und mit dem ich fast ein ganzes Jahr in einer gemischten Wohngemeinschaft gelebt hatte.
„Ich sehe gerade“, erklärte ich dem Beauftragten, „dass da drüben ein alter Freund von mir sitzt. Der ist Parteimitglied. Das weiß ich genau. Seine Partnerin ist es natürlich auch. Auch das weiß ich genau. Ich könnte kurz mit ihnen reden und die beiden bitten, dass sie sich umsetzen auf die Plätze für Parteimitglieder. Dann wären da Plätze frei und …“
Er schüttelte den Kopf: „Parteimitglieder können sich hinsetzen, wohin sie wollen.“Gerade wollte ich anfangen zu diskutieren – natürlich höflich, ohne ihn persönlich anzugreifen oder zu beleidigen. Ich wollte keinesfalls einen Streit vom Zaun brechen, ich wollte nur versuchen, eine Lösung zu finden, mit der alle glücklich sein könnten. Ich wollte keinesfalls in Frage stellen, dass grundsätzlich ein Teil der Plätze für Parteimitglieder reserviert sein muss.
Da entstand Unruhe. Plötzlich kamen Gäste, als wären sie alle im Moment mit einem Reisebus angekommen, sie verteilten sich schnell auf den freien Plätzen. Nun war der Speisesaal tatsächlich voll – fast voll jedenfalls, einige freie Plätze blieben noch übrig. Blitzeschnell wurden den Gästen Teller hingestellt. Man kann sagen, was man will: Der Service war flink und effektiv. Nun war ich auch wieder versöhnt mit dem Beauftragten, ich sah es ja selber: Er hatte die Wahrheit gesagt. Die Plätze waren nicht frei, sie waren tatsächlich reserviert gewesen.
Nur ein paar blieben frei. Ich wusste, dass ich jetzt keinen Fehler machen durfte. Wenn ich jetzt einen Geldschein gezückt, ihm den dezent zugesteckt und geflüstert hätte: „Es sind noch welche frei, können wir nicht eine Ausnahme machen …“ Nein, nein. Ich wusste, dass das so nicht geht. Gar nicht. Das wäre ein Bestechungsversuch gewesen, der den armen Beauftragten in Verlegenheit gebracht hätte. Ich wollte auch nicht gerne als einer von denen dastehen, die meinen, sich mit Geld alles kaufen und sich über Regelungen hinwegsetzen zu können.
Wie von Ungefähr erschienen Kameraleute – was in Berlin nicht ungewöhnlich ist, hier wird ständig gedreht und inszeniert. Im Gefolge einiger Sicherheitskräfte, die man sofort erkennt, auch wenn sie versuchen so zu tun, als wären sie Passanten wie du und ich, ging mit forschem Schritt die Ministerin in den Speisesaal. Ich hatte sie schon mal im Fernsehen gesehen. Auch das ist nichts Besonderes in Berlin: Wenn man irgendwo auf Schritt und Tritt Politiker trifft – dann hier. Ich habe hier schon Hans-Dietrich Genscher, Angela Merkel und Otto Schily getroffen. Ich wusste allerdings nicht, wer die Ministerin war und wie sie hieß. Ich wusste nur, dass ich sie schon mal im Fernsehen gesehen hatte. Sie kam mir klein vor, kleiner als ich erwartet hatte – so einen Eindruck kann man natürlich nur haben, wenn man bereits ein Bild von einer Person hat.
Frau Ministerin baute sich vor den leer gebliebenen Plätzen mit einer Lässigkeit auf, als hätte sie das gerade gestern erst schon mal gemacht und erklärte, dass es inzwischen zwar große Fortschritte gäbe, dass aber die Vorgaben noch immer nicht erfüllt seien, wie man an den freien Plätzen sehen könne, die symbolisch so lange frei bleiben müssten, bis die totale Vollständigkeit erreicht sei. Doch nur so würde es eine allgemeine Zufriedenheit, Gerechtigkeit und Glückseligkeit geben … eine, mit der sich die Partei einen würdigen Platz in der Geschichte erkämpft hätte als zuverlässige Erfüllungsgehilfin internationaler Bestimmungen … in einer Geschichte wohlgemerkt, die von Erniedrigungen gezeichnet wäre, die man bisher nicht immer ausreichend beachtet hätte. Man wolle sich aber nicht mehr länger in den Windschatten der Aufmerksamkeit ducken und wolle vielmehr erhobenen Hauptes in die Zukunft schauen. Deutschland sei immer noch Schlusslicht im internationalen Vergleich, man dürfe sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen und müsse stattdessen unbeirrt dem Morgengrauen einer besseren Welt entgegengehen … einer grundlegenden Neugestaltung aller Lebensbereiche, bei der niemand mehr zu kurz kommen muss. Man müsse achtsam bleiben, denn die Profiteure und Vorteilsritter aus längst überwunden geglaubten Zeiten wären immer noch nicht vollständig in die Schranken gewiesen. Es gab Applaus.
Frau Ministerin ging wieder. Gerade war sie an dem Beauftragten, der sich artig verbeugt hatte, vorbeigehuscht, da machte sie auf dem Absatz kehrt und – als hätte sie etwas vergessen – ging zu dem Beauftragten zurück, gab ihm die Hand, schenkte ihm ein herzliches Lächeln und hielt seine Hand so lange fest, bis die Fotografen ihr signalisierten, dass sie nun genug Fotos geschossen hatten. Dann eilte sie davon, als müsse sie sich sputen, weil sie bereits verspätet war. Innerhalb von Augenblicken war die gesamte Delegation wieder verschwunden und ließ den Auftritt der Ministerin wie einen Spuk erscheinen. So ist das in Berlin. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit.
Nun gingen auch die Gäste, die gerade erst gekommen waren, ohne was gegessen zu haben, so als hätte draußen der Bus, mit dem sie gekommen waren mit laufendem Motor gewartet, um sofort weiterzufahren. Plötzlich war der Speisesaal wieder nur zur Hälfte gefüllt – wie in dem Moment, als ich gekommen war. Es war, als hätte jemand einen Film zurückgespult und nun waren wir wieder an der Stelle angekommen, an der wir schon mal gewesen waren und alles sah wieder so aus, wie es schon vor wenigen Augenblicken ausgesehen hatte.
Es gab eine wortlose Verständigung mit dem Beauftragten: Mein Blick fragte, ob wir uns nun, da die Plätze frei wären, da hinsetzen könnten. Ich wusste aber selber, dass es nicht geht. Die Plätze waren grundsätzlich reserviert. Sein Blick antwortete: Nein. Wir brauchten keine Worte. Es war sowieso klar. So ging es nicht. Aber vielleicht ging es so:
Ich bekannte, dass ich die Partei schon immer für ihr Engagement bewundert hätte. Das stimmte. Es gab bei mir mehr als nur eine oberflächliche Übereinstimmung mit einigen Punkten aus dem Programm, das ich – ehrlich gesagt – gar nicht in allen Einzelheiten kannte, es gab vielmehr ein grundsätzliches, tief reichendes „Ja“, das ich der Partei gegenüber empfand und immer schon empfunden hatte, auch wenn es nicht so weit gekommen war, dass ich den Schritt gemacht hätte, der Partei beizutreten. Nun aber.
„Ich möchte der Partei beitreten“, erklärte ich dem Beauftragten und fügte hinzu, dass ich an Ort und Stelle meinen Mitgliedsbeitrag im Voraus zahlen wollte. Doch er winkte ab: Mitgliedsbeiträge wären heute nicht mehr nötig. So etwas hatte es nur in den Anfängen der Partei gegeben.
Umso besser. Ich war bereit, sofort einen Antrag zu unterschreiben und meine Freundin war es auch. Ich schaute sie an. Sie nickte. Wir hätten es längst tun wollen. Wirklich. Wir waren der Partei nicht nur wohl gesonnen, wir waren im Grunde längst schon Teil von ihr, ohne dass wir es offen bekannt hatten.
Wieder musste uns der Beauftragte enttäuschen. So ginge es nicht. Nicht nur, dass es auf dem schnellen Wege, den ich mir vorstellte, unmöglich wäre. Es ginge gar nicht. Grundsätzlich nicht. Parteimitglied musste man von Geburt an sein. Man war es – oder war es nicht.
Einen Moment lang war ich sprachlos. Ich machte aber nicht den Fehler, mich mit ihm anzulegen. Es ist sowieso zwecklos, mit Leuten zu streiten, die nichts dafür können, dass die Dinge so sind, wie sie nun mal sind. Es ist schlechter Stil, jemanden zurechtzuweisen, der nur seine Pflicht tut, der seine Arbeit macht und womöglich fürchten muss, dass er seinen Job verliert, wenn er gegen die Regeln verstößt. Außerdem verschwendet man nur sinnlos seine Energie, wenn man sich mit falschen Ansprechpartnern in nicht enden wollende Diskussionen verstrickt.
Man sollte auch seinen Ärger niemals am Personal und an der so genannten Bedienung auslassen. Steckt doch in dem Wort „Bedienung“ das Wort „Diener“. Diener darf es heute nicht mehr geben; das Wort wird deshalb auch nicht mehr benutzt. Also bedankte ich mich herzlich für die Auskünfte und für die Geduld, die er mit jemandem wie mir an den Tag gelegt hatte. Wie es sich gehört, spendierte ich ihm großzügig Trinkgeld und verabschiedete mich.
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