Die Diagnose der Quacksalber

Bernhard Lassahn

Bernhard Lassahn

Von Bernhard Lassahn

Wer ist krank? Was für eine Krankheit ist es? Ist sie heilbar? Wer ist der Arzt?

Die jüngste COMPACT-Konferenz in Leipzig „Für die Zukunft der Familie“ stand unter dem Motto „Mut zur Wahrheit“, was mich ein wenig an die ‚Bild’-Zeitung erinnerte. Thilo Sarrazin – der „Stargast beim Homophoben-Treffen“, wie der ‚Tagesspiegel’ schrieb, – kommentierte das Motto dann auch mit leicht mürrischem Unterton: Es dürfe nicht sein, dass man „Mut“ haben müsse, um die Wahrheit zu sagen – andererseits: Was ist schon „Wahrheit“? Wer könnte den Anspruch erheben, im Besitz der Wahrheit zu sein? Er nicht. Eine These (ihm wird schließlich vorgeworfen, dass er „krude Thesen“ vertritt) behaupte eben gerade nicht von sich, die Wahrheit zu sein, eine These stelle sich vielmehr zur Diskussion und fordere die Antithese heraus.

„Mut zur These“ könnte man sagen, oder auch „Mut zur Meinung“. Das träfe es eher; denn heute gibt es Meinungsdelikte, da braucht man Mut, eine Meinung zu äußern. Wer es tut, ist nicht mehr sicher. In Leipzig nicht, in Berlin nicht. Da wurde Gerhard Amendt ausgeladen, weil aufgrund der Proteste im Vorfeld für seine Sicherheit nicht mehr garantiert werden konnte. Es wäre eine Diskussion gewesen zur Frage: „Zwischen Gleichberechtigung und Gleichmacherei – brauchen wir eine gesetzliche Frauenquote?“

Eine Themenstellung mit einem bescheidenen Fragezeichen. Aber sie machte ebensoviel Wirbel wie das „weiche“ Thema „Zukunft der Familie“.

Eure Familie kotzt uns an

„Eure Familie kotzt uns an“ - Ein Hilferuf?

Die Ausschreitungen in Leipzig haben sich in Grenzen gehalten – und trafen die Falschen: eine ältere Frau kam ins Krankenhaus, versehentlich sei sogar ein Vertreter der russischen Presse attackiert worden, von dem sich herausstellte, dass er zur kritischen Presse gehört. Doch Wut macht keine Unterschiede. Man muss nicht esoterisch angehaucht sein, um da eine Bugwelle von Bitterkeit und Pöbel-Power zu spüren. Die Vibrations, wie man früher sagte, waren unterirdisch schlecht. Es wurde nicht nur miese Stimmung verbreitet, es war widerwärtig. Es blieb rätselhaft, was die Demonstranten mit ihren Israel-Wimpeln und der Parole „Eure Familie kotzt uns an“ eigentlich wollten: Sie donnerten eine gefühlte Ewigkeit lang gegen die Wand des Veranstaltungssaales, die Polizisten standen daneben und guckten zu. Ihr Verhalten war ebenso rätselhaft.

Die Fälle von Leipzig und Berlin weisen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf: Entgegen dem Eindruck, den das Motto „Mut zur Wahrheit“ macht, wurde in Leipzig keine Wahrheit verkündet, erst recht nicht eine einzige Wahrheit. Der „Star“ Sarrazin sagte nichts zur Homo-Ehe, Eva Hermann tat es in ihrer Video-Botschaft auch nicht. Es gab sogar Stimmen, die sich deutlich – unter Applaus – für die Homo-Ehe und das „Recht auf Adoption“ aussprachen, auch wenn das eigentlich ein Nebenthema war. Auch in Berlin hatten die Veranstalter die Diskussions­runde so zusammengestellt, dass es Pro und Contra im ausgewogenen Verhältnis geben sollte. Doch ein geduldetes Nebeneinander verschiedener Positionen soll es offenbar nicht mehr geben. Es gilt inzwischen zero tolerance.

Die Gegner, die schon vorher wussten, was gesagt werden würde (in den Aufrufen zu den Protesten hieß es, dass es „leicht vorhersagbar“ sei), sahen in dem Angebot verschiedener Meinungen nur das, was sie selber verkörperten: primitive Gleichmacherei und unbelehrbare Einseitigkeit. In Leipzig hatte man hände­ringend nach Diskussions­partnern gesucht, es hätte sogar die Möglichkeit gegeben, als Last-Minute-Teilnehmer einzusteigen. Aber niemand wollte mitmachen. Sie wollten lieber dagegen sein und außen vor bleiben. In Berlin sagte der Teilnehmer, der für eine Quote sprechen sollte, kurzfristig ab, weil er sich das anders überlegt hatte und statt zu diskutieren, sich lieber darauf zurückzog, Diskussions­partner, bei denen er andere Meinungen vermutete als seine, als so unerträglich anzusehen, dass er sich nicht mit ihnen an einen Tisch setzen wollte.

Zwei verschiedene Ansätze, die Welt zu betrachten, stehen sich hier gegenüber. Wenn es dem Begriff nicht zu viel der Ehre antäte, könnte man von zwei Erkenntnis­methoden sprechen. Behelfsmäßig kann man die eine als induktiv, die andere als deduktiv bezeichnen. Bei der einen geht man vom Vorurteil – vom Fernbild – aus und sucht nach Belegen, die nur dazu dienen, eine schon vorher gefasste Meinung zu bestätigen. Das ist leicht. So haben es übrigens auch große Teile der Presse gemacht: Wie faule Germanistik­studenten oder lüsterne Leser haben sie nur nach „Stellen“ gesucht.

 

Für die andere Sichtweise ist ein Einzelfall immer ein Einzellfall, für den sich auch ein Gegenbeispiel finden ließe. An eine Abstraktion, die vom Kleinen ins immer Größere aufsteigen will, werden gewisse Ansprüche gestellt. Das ist nicht einfach.

Wenn beide Seiten dieselbe Verall­gemeinerung benutzen, ist es nicht dasselbe: Für die einen ist es eine vorsichtige, für die anderen eine grobe Verall­gemeinerung. Die einen nutzen sie, um ein Gespräch zu eröffnen, die anderen, um dem Kontrahenten zu schaden.

Es liegt ein tragisches Selbst­miss­verständnis der Demonstranten von Leipzig vor, die mit dem Kopf gegen die Wand rannten (oder mit Fäusten dagegen hämmerten). Sie glauben, sie wären eine Bewegung, die „von unten“ kommt und eine eigene Kraft entfaltet. Das ist ihr Irrtum. In ihren Augen sind die Gegner machtvolle, religiöse Fundamentalisten, die gleichwohl das letzte Aufgebot von reaktionären Kräften sind, die überhaupt noch eine Familie wollen. Doch sie haben etwas mit ihren vermeintlichen Feinden, die sie auf der anderen Seite der Wand vermuten, gemeinsam.

Für beide Seiten gilt, dass sie den Spruch „Alles Gute kommt von oben“ nicht ironisch meinen. Für die Gläubigen (unabhängig davon, ob man die Teilnehmer der Konferenz damit wirklich richtig beschreibt) ist das „Gute“, das „von oben“ kommt, das, was von Gott kommt.

Für die Gegner der Familie ist das „Gute“, das „von oben“ kommt, das Konzept von Gender Mainstream, das fester Bestandteil der Politik ist und die Entschlüsse der Weltfrauen­konferenz „top down“ – also von oben nach unten – durchsetzt und schon lange mit riesigen Geldmengen Homo­sexualität fördert und Strukturen geschaffen hat, die Familien zerbrechen lässt. Die neuen „Helden von Leipzig“ mögen sich als Vorkämpfer fühlen, sie sind Trottel, die hinterher trotten.

Sie sind gegen Familie und gegen Fremdenfeindlichkeit. Wenn sie „Nazis“ sagen, meinen sie Zeitgenossen, die gegen den Zuzug von Fremden sind, von Migranten, von Moslems. Sie verstehen nicht, dass die Migranten genau das Familienbild haben, das sie ablehnen.

Heute findet ein Austausch von Meinungen im Leben nicht mehr statt. Bezeichnen­der­weise auch nicht in der virtuellen Welt. Da wäre es immerhin möglich, Meinungen neben­einander zu stellen. Doch auch in den blogs wird abgeblockt. Wer nicht „gefällt mir“ klickt, ist ein Troll.

Wie konnte es soweit kommen?

Wenn man früher von „Frauen“ redete, waren Ausnahmen immer mitgedacht und mitgemeint, sobald „Frauen“ aber nicht nur in der Umgangs­sprache, sondern auch in Gesetzes­texten auftauchten und so Quotenregelungen ermöglichten, gab es keine Ausnahmen mehr. Mit der Etablierung der Frauenpolitik wurde die Kategorie „Frau“, die es sowieso nur in der Abstraktion (und eigentlich gar nicht) gibt, überhaupt erst geschaffen; sie bewirkte ein Umschlagen vom Typischen zum Totalen.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: „total e-quality award“. Das ist Deutsch. Man erkennt es an der Vorliebe für das kleine Wörtchen „total“ und daran, dass jemand versucht, mit einem Fremdwort zu blenden und sich hinter dem Unernst eines Wortspiels versteckt. Mit diesem „award“ werden Universitäten ausgezeichnet, die sich besonders für die Gleich­stellung engagieren. Da wird „equal“ mit „quality“ zwangs­vereint. Qualitäten werden zu Quantitäten eingeebnet, und am Tor der Universität steht der Cerberus und spricht: „Frau oder nicht Frau, das ist hier die Frage!“

Die Bezeichnung „Schwarzweiß-Feminismus“ erklärt die Lage gut. Es gibt keine Grautöne mehr. Wir sind wieder in einer Phase, in der man die Parole von Franz Joseph Degenhardt „Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf“ wiederbeleben und auf den Geschlechter­kampf übertragen könnte. Wir sind jedoch noch weit von der Einsicht des Liedermachers entfernt, der seine einstige Zuspitzung wenig später selber als Krampf empfand.

Jemand der sich mit Mengenlehre besser auskennt als ich, könnte das vielleicht mit der Booleschen Algebra erklären. Dabei wird aus einer mathematischen Aussage, die zeigen will, dass auf der einen Seite – X – eine Menge ist, die größer oder gleich der Menge – Y – auf der anderen Seite ist, eine Alles-oder-nichts-Gegenüberstellung. Nach diesem Muster wird uns die Welt präsentiert, beispielsweise bei der Frage der häuslicher Gewalt: Männer sind immer nur Täter, Frauen immer nur Opfer. Zwar gibt es Untersuchungen, die zu ganz anderen Ergebnissen kommen, aber „stumpf ist Trumpf“, wie man auf dem platten Land sagt. Schlimm wird es allerdings, wenn die primitive Weltsicht auch für das politische Handeln zugrunde gelegt wird.

Man könnte es auch singen: „The winner takes it all“. Der Texter von Abba ist tatsächlich Feminist und weiß – oder ahnt zumindest –, was es für Botschaften sind, die er von den Frauen singen ließ. Das Stichwort heißt „Deutungs­hoheit“. Auch da klingt heraus, dass keine Kompromisse zu erwarten sind und keine Abweichungen geduldet werden. Von dem Gegner wird erwartet, dass er bedingungslos kapituliert. Wie es geschrieben steht im Grundsatz­programm der SPD, die das „Männliche“ „überwinden“ will.

Das ist deutlich. Sie machen keine Gefangenen, sie überwinden. Wenn der Gegner auf dem Boden liegt, wird nachgetreten. So auch mit der Familie. Die liegt nämlich schon am Boden.

Der Patient „Familie“ ist schwach und krank, doch die Krankheit, unter der die Familie leidet, ist keine Phobie. Schon der Vorwurf „homophob“ ist bösartig und verhindert jede Diskussion, es sei denn, jemand redet gerne mit Leuten, die einen kränken – die einen krank machen wollen.

Bernhard Lassahn