Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Feindbild 68er

Paul, Sunday, 19.09.2004, 22:47 (vor 7362 Tagen) @ michail

Als Antwort auf: Re: Es fehlt noch was: von michail am 19. September 2004 18:35:27:

Schon das Überfliegen aber von Begriffen wie 'Lustprinzip vs. Leistungsprinzip', 'Erlösung vom Ich', dem eigentlichen Menschen also

Es ist allerdings eine Ironie der Realität, daß in einem marktwirtschaftlich orientierten Staat noch nie das "Leistungsprinzip" galt, sondern immer schon das Marktprinzip. Selbstversändlich wird das in konservativen Kreisen gerne geleugnet, müsste man doch sonst zugeben, daß die "bürgerlichen" Tugenden in höchstem Widerspruch zur neoliberalen Gesellschaftsutopie stehen - ebenso, wie diese im Widerspruch zu "linken" Ideologien stehen.

Die Mittel sind unterschiedlich, der der Effekt ähnlich. Es ist letztendlich egal, ob die bürgerliche Familie von linken Ideologen als zerstörenswertes Feindbild propagiert wird, oder ob intakte Familien durch die geforderte uneingeschränkte Mobilität (durch eine Wirtschaft, die Menschen zunehmend nur noch als "Verfügungsmasse" begreift) zerstört wird. Es ist auch egal, ob Linke sich vom "Ich" loslösen wollen, oder ob neoklassische Ökonomen den Menschen diese Loslösung vom Ich verordnen, indem definiert wird, daß Menschen sich als Marktteilnehmer stets "rein rational", verhalten müssen, was gut klingt, in der Realität aber nichts anderes bedeutet, wie eine "nutzenmaximierende" Maschine zu handeln.

Was ich damit sagen will: Auch wenn negative Nachwirkungen (und es gab ja eben nicht nur diese) der 68er noch spürbar sind, so gibt es inzwischen wesentlich ernsthaftere Bedrohungen der Gesellschaft (sofern die 68er jemals wirklich eine waren). Dummerweise kommen die aus einer - speziell von den 68er-Kritikern - eher unerwarteten Richtung. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es scheint eine regelrechte Trotzhaltung in gewissen Kreisen vorzuherschen, die nichts anderes als eine verspätete Rebellion gegen die 68er zu sein scheint(!) Und hier gibt es Paralellen zu bestimmten Teilen der 68er, die sich als Rebellion (allerdings eine reichlich verpsättete) gegen ihre vermeintlichen oder realen "Nazieltern" verstanden haben.

Sind am Ende also die 68er-Kritiker nicht nur _nicht_ ideologiefrei, wie sie es gerne wären, sondern sogar in ihren Denkstrukturen den von ihnen kritisierten 68er extrem ähnlich, nur daß sie einfach eine entgegengesetzte ideologische Richtung eingeschlagen haben? Und ist es nicht vielleicht ironischerweise so, daß eben diese entgegengesetzte ideologische Richtung dieselben Werte zu zerstören droht, auf den es bestimmte Kreise der 68er schon abgesehen hatten?

Menschen werden zu willigen Instrumenten, wenn sie ein klar konturiertes Feindbild vor Augen haben.

Gruss,
Paul


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