Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Rechnen wir mal kurz

Garfield, Wednesday, 27.07.2005, 21:15 (vor 7439 Tagen) @ VWL-Experte

Als Antwort auf: Re: Rechnen wir mal kurz von VWL-Experte am 27. Juli 2005 15:54:

Hallo VWL-Experte!

"Zwar stimmt das, jedoch ist an der Produktion der Güter, die ins Ausland gehen kaum noch ein Deutscher beteiligt."

Das stimmt. Selbst wenn hier noch endmontiert wird, stammen die montierten Einzelteile zum großen Teil aus dem Ausland. Ich habe mal in einer Fahrradfabrik gearbeitet. Das stand auf den Fahrrädern am Ende teilweise "Made in Germany" drauf. Okay - die Rahmen wurden tatsächlich dort in der Fabrik geschweißt (mittlerweile werden sie aber auch schon meist aus Asien importiert). Und die Reflektoren stammten meist auch aus Deutschland. Teilweise wurden auch Sachs-Schaltungen eingebaut, die vielleicht auch in Deutschland zumindest endmontiert wurden. Aber so ziemlich alles andere stammte aus dem Ausland. Sättel kamen meist aus Italien, Bremsen und Schaltungen meist aus Taiwan usw.

"Zum Zweiten müssen sich auch die Deutschen selbst fragen lassen, warum sie immer jammern in Deutschland würden Arbeitsplätze abgebaut, dann aber rennen sie in den nächsten Media-Markt oder Saturn, rufen GEIZ IST GEIL und kaufen Billigprodukte aus Fernost."

Das hängt aber auch sehr damit zusammen, daß sich immer mehr Menschen einfach nichts anderes mehr leisten können! Man darf da nicht Ursache mit Wirkung verwechseln. Zuerst kam die steigende Erwerbslosigkeit, und erst dann begannen die Menschen, mehr auf die Preise zu achten.

Früher war es ja regelrecht verpönt, Billigprodukte aus Fernost zu kaufen. Und niemand gab gern zu, daß er gelegentlich auch mal im ALDI einkauft. Eine Werbung mit dem Slogan "Geiz ist geil" wäre damals voll nach hinten losgegangen. Natürlich wollte man auch damals preiswert kaufen - aber eben nicht billig. Qualität war den Menschen wichtig, weil sie sich Qualität leisten konnten. Und man zeigte eben gern, daß man sich etwas leisten konnte.

Mittlerweile können sich das aber immer weniger Menschen leisten. Selbst diejenigen, die noch Jobs haben, müssen immer mehr auf die Preise sehen und können nicht mehr munter drauflos konsumieren. Sie müssen nämlich die steigende Erwerbslosigkeit, die steigenden Unternehmensgewinne und die steigenden Einkommen und Privilegien für Spitzen-Politiker und andere Reiche im Lande durch immer höhere Steuern und Abgaben und auch immer häufiger durch Lohnkürzungen finanzieren. Das läßt ihnen netto immer weniger im Portemonnaie. Ich beispielsweise habe seit diesem Monat durch unsere tolle Gesundheitsreform wieder monatlich über 14 Euro netto weniger. Diese 14 Euro kann ich nun also auch nicht mehr ausgeben, und so werde ich sehen müssen, wo ich das wieder einsparen kann.

"Gleichzeitig fordern sie aber die großen Lohnerhöhungen. Das passt ja dann auch nicht zusammen."

Aha. Aber es paßt zusammen, die Preise für Strom, Gas, Öl, Benzin usw. immer fröhlich weiter zu erhöhen und gleichzeitig die Löhne zu drücken?

"Wenn die Leute nur billig einkaufen, muss der Unternehmer eben billig anbieten und kann dann keine hohen Löhne zahlen ohne Leute zu entlassen. Einfache Mathemathik."

Ja, und die Leute kaufen billig ein, weil immer mehr es einfach müssen! Da beißt sich die Katze dann in den Schwanz, und die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller.

"Viele Länder der Erde erfreuen sich derzeit am Kapitalismus, wie nie zuvor, weil sie einen riesen Wohlstandsgewinn einfahren. Siehe Osteuropa und Asien. Die haben "Wirtschaftswunder" wie Deutschland in den Fünfzigern."

Die genauso auch wieder vorbei gehen werden. Das Problem besteht darin, daß vor allem Großunternehmen nur auf wachsende Profite orientiert sind. Sinkende Profite werden nicht akzeptiert, und so zieht es sie zwangsläufig immer zu Märkten, wo es gerade Wachstum gibt. Denn dort wachsen auch die Profite.

"Da muss man sich doch die Frage stellen, was macht DEUTSCHLAND FALSCH?"

Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder war ja eigentlich gar kein Wunder. Es hatte ganz konkrete Ursachen:

1. Gab es nach Kriegsende, als alles wieder aufgebaut werden mußte, Arbeitskräftemangel. Der zwang die Wirtschaft schon einmal dazu, die Beschäftigten passabel zu bezahlen. Das war aber in Großbritannien oder Frankreich durchaus ähnlich. In Deutschland kamen aber noch zwei weitere Gründe dazu:

2. Befürchteten die Allierten nach Kriegsende, daß die Deutschen Hitler nachtrauern würden. Die Russen versuchten, dieses Problem zu lösen, indem sie einige deutsche KZs reaktivierten und dort diejenigen einsperrten, die sie für Nazis hielten. Die Westmächte entschlossen sich zu einer wirkungsvolleren Methode: Sie sorgten dafür, daß die positiven Errungenschaften aus der Nazi-Zeit und der Zeit davor erhalten blieben, und sie gewährten den West-Deutschen auch sonst diverse Unterstützung (Care-Pakete, Einbeziehung in den Marshall-Plan, baldiger Erlaß der Reparationszahlungen usw.), um ihnen die Vorzüge der neuen Ordnung zu demonstrieren. Außerdem wurde im Westen Deutschlands auch nur wenig Industrie demontiert. So konnten beispielsweise die MAN-Werke nach dem Krieg praktisch sofort weiter LKWs bauen.

3. Befürchteten die West-Alliierten zusätzlich noch, daß die West-Deutschen womöglich massenweise mit den Kommunisten sympatisieren könnten. Der Kalte Krieg begann ja schon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und wurde zunehmend zu einem Wettstreit der Systeme. Für die West-Alliierten war das ein Grund mehr, die West-Deutschen gut zu behandeln. Und so ziemlich alle deutschen Großunternehmen hatten im Osten Deutschlands Werke verloren, die sie natürlich wieder erlangen wollten. Deshalb durfte die Bundesregierung die DDR lange Zeit gar nicht anerkennen, und auch die neue Grenze zu Polen durfte lange nicht anerkannt werden. Die Vorstellung, daß sie ihre Werke im Westen Deutschlands womöglich auch noch verlieren würden, wenn sich auch dort der "Kommunismus" durchsetzt, war für die Besitzer und Manager dieser Unternehmen natürlich der blanke Horror, und da waren sie gern bereit, ihre Profit-Erwartungen mal etwas herunter zu schrauben und dafür den Gewerkschaften etwas entgegen zu kommen, zumal viele Unternehmen ja noch in den 1960er Jahren Arbeitskräfte suchten. Als die DDR 1961 die Grenze schloß, verschärfte sich das Arbeitskräfteproblem noch einmal.

Das alles sorgte also dafür, daß Unternehmen und auch Politiker mehr Rücksicht auf die westdeutsche Bevölkerung nehmen mußten, als sie es sonst für nötig gehalten hätten. Und sogar die Ost-Deutschen profitierten ein kleines bißchen davon - für sie gab es immerhin Begrüßungsgeld, wenn sie in den Westen kamen, um auch sie von den Vorzügen der Marktwirtschaft zu überzeugen.

In den 1970er Jahren begann sich das zu ändern. Das lag keineswegs nur an der SPD-Regierung, sondern auch daran, daß sich viele Unternehmen mittlerweile mit dem Verlust ihrer Werke im Osten abgefunden hatten. Man war ja auch so wieder gut im Geschäft, und mittlerweile hatte man festgestellt, daß man sogar mit der DDR gute Geschäfte machen konnte. Man kaufte dort billig Produkte ein und verkaufte sie im Westen teuer unter westlichen Markennamen. Auch das Arbeitskräfteproblem hatte sich durch Automatisierung und Fremdarbeiter mittlerweile entspannt. Nun stiegen sogar die Erwerbslosenzahlen langsam wieder an, was für die Wirtschaft auch positiv war.

Als sich dann 1989 die Chance zur Wiedervereinigung ergab, sah die Wirtschaft das als riesengroße Chance. Immerhin warteten in der DDR 17 Millionen potentielle Kunden auf die lang ersehnten westlichen Produkte. Und die westlichen Spitzen-Politiker betrachtete die Vorgänge in der DDR mit Argwohn. Da wurden auf einmal "runde Tische" eingerichtet, über die die Bevölkerung mehr Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen bekommen sollte, und Bürgerinitiativen mischten in der DDR-Politik mit. Das alles war höchst unerwünscht, denn womöglich würden die Westdeutschen dasselbe auch mal fordern... Die DDR konnte man in den 1950er und 1960er Jahren über die Propaganda prima verteufeln, immerhin gehörte sie ja zum Lager des Bösen. Und später verteufelte sie sich durch Selbstschußanlagen, Mauertote, Zwangsumtausch, strenge Grenzkontrollen, Öffnen von Post aus dem Westen usw. gründlich selbst, so daß der Westen gar keine Propaganda mehr betreiben mußte. Wie aber konnte man eine erneuerte DDR verteufeln, in der es eine soziale Marktwirtschaft gibt? Und noch schlimmer: Es war ja allgemein bekannt, daß das Recht auf Arbeit in der DDR recht seltsame Blüten trieb. Was war nun, wenn die DDR die Grenzen öffnete und gleichzeitig dort überall überflüssiges Personal entlassen wurde? Es war ganz klar, was dann passieren würde: Die Arbeitslosen der DDR würden zum großen Teil in die Bundesrepublik auswandern! Die Bundesrepublik müßte dann entweder die Sozialfälle der DDR mit durchfüttern, oder aber sie müßte ihrerseits die Grenzen dicht machen. Wie konnte man letzteres tun, ohne dabei die bisherigen eigenen Forderungen nach Öffnung der Grenze ad absurdum zu führen? Die DDR hätte so keine Probleme mit Arbeitslosigkeit gehabt, und allein das wäre eine gute Grundlage für eine positive wirtschaftliche Entwicklung gewesen. Aber eben auf Kosten der Bundesrepublik.

Und dann wurde durch ein Mißverständnis die Grenze tatsächlich geöffnet. Damit war völlig klar, daß nun kein Weg mehr um die Wiedervereinigung herum führte. Die Wirtschaft wollte das sowieso, also mußte sie eben sofort durchgezogen werden, ohne Rücksicht auf Verluste.

Als die DDR dann weg war, konnte das Kapital zur üblichen Tagesordnung übergehen, und auf dieser Tagesordnung gibt es nur einen Punkt: Profit. Nun brauchte man keinerlei Rücksichten mehr nehmen, man konnte bedenkenlos tausende Beschäftigte feuern, die Löhne drücken und auch sonst an allem sägen, was irgendwie den Profit schmälerte.

Aus den oben beschriebenen Gründen war in Deutschland mittlerweile ein beträchtlicher Wohlstand entstanden, mehr als in anderen Industriestaaten. Wer mal nach Dänemark oder Belgien fährt, sollte sich mal genau die Häuser, Gehwege usw. dort ansehen. Man kann oft wirklich auch völlig ohne Beschilderung sehen, daß man Deutschland verlassen hat. Plötzlich sieht man nicht mehr überall neu verklinkerte Häuser, neue Kunststoff-Fenster und -Türen usw. Da gibt es plötzlich Häuser mit uralten Holzfenstern mit doppelter Einfach-Verglasung. Da gibt es auch in Ortschaften nicht unbedingt an jeder größeren Straße einen Gehweg.

Dieser allgemeine Wohlstand in Deutschland hat nicht nur der Bevölkerung genützt, sondern auch der Wirtschaft. Die guten Einkommen stärkten den Binnenmarkt enorm. So machte die Wirtschaft Profit, der Staat nahm immer mehr Steuern ein und alles war prima. Weil das Geld immer schön im Kreis floß.

Aber schon in den 1980er Jahren begann die Umverteilung des Geldes von unten nach oben. Seit 1990 wurde das noch forciert. Dann kam noch dazu, daß immer mehr deutsche Unternehmen sich in den wachsenden asiatischen Märkten ansiedelten und hierzulande Werke schlossen, weil der schrumpfende deutsche Markt für sie immer uninteressanter wurde.

Deutschland ist in der "Wirtschaftswunderzeit" sehr hoch gestiegen - und umso tiefer ist nun der Fall. Problematisch ist auch, daß die Reichen im Lande trotzdem weiter jährliche Einkommenssteigerungen erwarten. Weder Politiker noch Wirtschaftsbosse wollen auf ihre Privilegien und Pfründe verzichten. Die Beschäftigten natürlich auch nicht, aber das interessiert kaum noch jemanden. Sie sitzen eh am kürzesten Hebel und kriegen so eine Kröte nach der anderen zu schlucken.

Daß das den Binnenmarkt immer weiter schwächt, interessiert die Großunternehmen in Deutschland wenig. Für die ist Deutschland nur ein Markt von vielen. Und heute auch oft gar nicht mehr der Wichtigste. Das sieht man schon daran, daß man immer öfter Verpackungen im Handel findet, die schon gar nicht mehr in deutscher Sprache beschriftet werden. Wenn die Märkte hier völlig zusammen brechen, dann ziehen die Großunternehmen sich eben ganz aus Deutschland zurück. Aber vorher wird noch alles an Profit abgeschöpft, was es irgendwie abzuschöpfen gibt.

Auf der Strecke bleiben dabei viele kleine und mittlere Unternehmen, die nicht so einfach nach China auswandern können und deshalb auf den deutschen Binnenmarkt angewiesen sind. Und natürlich die Masse der deutschen Bevölkerung, die zunehmend gar keine Erwerbsmöglichkeiten mehr findet.

Freundliche Grüße
von Garfield


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